Guben – „Perle der Niederlausitz“,
eine historische Titulatur, heute umstritten und nur von wenigen Lokalpatrioten und Heimatforschern im Bezug auf ihre Stadt angewandt, hatte in der Vergangenheit, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, sicherlich ihre Berechtigung. Während dieser Zeit erlebte die Stadt an der Neiße ihre Blütezeit, die Textilindustrie, allen voran die Hutmacherei, verschafften der Stadt erheblichen Wohlstand, 1874 eröffnete das Gubener Stadttheater – heute muss man für einen Kinobesuch im nächsten Filmtheater mindestens 25km fahren.
Der erste Niedergang kam Ende des 2. Weltkrieges, im Frühjahr 1945 tobten hier zwei Monate lang schwere Kämpfe, in der Folge waren 90% der Bebauung beschädigt und zu großen Teilen völlig zerstört. Mit dem Ende des Krieges änderte sich auch der Grenzverlauf, Neiße und Oder bildeten die neue Ostgrenze Nachkriegsdeutschlands, aus Guben wurden faktisch zwei Städte, östlich der Neiße Gubin, mit dem vormaligen Stadtzentrum, am Westufer Guben, die vorwiegend industriell geprägte Vorstadt. Die deutschen Einwohner mussten den östlichen Teil verlassen, dieser Teil wurde Polen zugewiesen, die wiederum aus Ostpolen vertrieben wurden, das fortan Teil der sowjetischen Teilrepubliken Weißrussland und Ukraine wurde.
Auf beiden Seiten der Neiße begann der Wiederaufbau, in Guben gelang die Wiederbelebung der Textilindustrie unter sozialistischen Vorzeichen. Zu Beginn der 60er Jahre entstand das Chemiefaserwerk Guben und wurde mit über 8000 Arbeitsplätzen der bis 1990 größte Arbeitgeber der Stadt. Um den immensen Arbeitskräftebedarf zu decken, entstand DDR-typisch ein größeres Plattenbaugebiet. Ab 1961 trug die Stadt den offiziellen Namen Wilhelm-Pieck-Stadt Guben, benannt nach dem ersten und einzigen Präsidenten der DDR, der hier geboren wurde.
Die friedliche Revolution im Herbst 1989 fegte die DDR hinweg und mit der politischen und wirtschaftlichen Einigung Deutschlands 1990 begann die nächste Phase des Niedergangs Gubens. Nahezu alle Industriebetriebe wurden geschlossen, weil sie der Konkurrenz nicht gewachsen waren. Arbeits- und Perspektivlosigkeit trieb die Einwohner aus ihrer Stadt, die Zahl der Einwohner halbierte sich in den folgenden 30 Jahren von 32.000 zum Ende der DDR auf gut 16.000 im Jahre 2020. Der Altersdurchschnitt liegt bei über 50 Jahren.
Mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union 2004 und zum Schengener Abkommen 2007 fielen auch die Grenzkontrollen weg und Guben und Gubin bemühen sich als Projekt „Eurostadt“ um Annäherung und gemeinsame Gestaltung der Zukunft. Jüngst konnte der Trend zur Abwanderung gestoppt werden. Verkündet wurde die Ansiedelung neuer Industrieunternehmen, wichtig in einer Stadt, zu deren größten privaten Arbeitgebern das Plastinarium Gunther von Hagens zählt, das aus menschlichen Leichen anatomische Schaupräparate produziert.
Der Wille, allen Schwierigkeiten zum Trotz, eine lebenswerte, die Grenze überwindende Kleinstadt zu gestalten ist sichtbar. Dennoch stößt man auch heute noch allerorts auf Zeichen des Verfalls.
Die Fotoserie entstand an vier Tagen um den Jahreswechsel 2021/2022. Sie dokumentiert nüchtern den Stand der Dinge beiderseits der Grenze, in den meisten Fällen wird der aufmerksame Betrachter die Aufnahmen Guben oder Gubin zuordnen können.